Adduktorenverletzungen gehören im Leistungssport zu den häufigsten muskulären Problemen – direkt nach den Hamstring-Verletzungen. Besonders Fußballerinnen und Fußballer sind gefährdet. Dennoch gibt es bislang keine einheitlichen Leitlinien, nach welchen Kriterien Athletinnen und Athleten wieder in den Spielbetrieb einsteigen dürfen. Auch wissenschaftlich belastbare Daten sind rar.
Ein Forscherteam um José Luis Estévez Rodríguez, Athletiktrainer der Schweizer Fußballnationalmannschaft, hat sich daher intensiv mit der Frage beschäftigt: Welche Faktoren sind für Rehatrainer, Physiotherapeutinnen und Ärztinnen entscheidend, um die Return-to-Sport-(RTS)-Fähigkeit zu beurteilen?
Die Studie im Überblick
Für die Untersuchung wurden 67 Expertinnen und Experten aus dem Profifußball kontaktiert, 63 nahmen teil. Durchschnittsalter: 38 Jahre. Erfahrung: rund 12 Jahre im Elitesport. Alle verfügten über mindestens einen Masterabschluss.
Die Mehrheit kam aus Spanien (n = 46), die restlichen Teilnehmenden aus Ländern wie der Schweiz, Portugal, England, Argentinien, Italien oder den USA.
Die Fachpersonen erhielten einen Fragebogen mit 20 Kriterien, aufgeteilt in drei Kategorien:
- klinische Kriterien
- funktionelle Aspekte
- Leistungsparameter
Bewertet wurde auf einer Fünf-Punkte-Likert-Skala von 1 („Stimme überhaupt nicht zu“) bis 5 („Stimme voll zu“).
Ergebnisse: Was zählt wirklich?
Am wichtigsten wurde das Feedback der Athletinnen und Athleten selbst eingeschätzt. Alle Teilnehmenden gaben hier „stimme zu“ oder „stimme voll zu“ an.
Weitere zentrale Kriterien waren (in absteigender Relevanz):
- Schmerzen während der Krafttestung
- Schussübungen
- Schmerzen bei Kraftübungen
- Allgemeine Kraftwerte
- „Worst-case Szenarios“ (z. B. Chaos-Training)
- Hochbelastende Teamtrainingseinheiten
- Vorverletzungswerte in GPS-Tests
- Isometrische Krafttests
- Beweglichkeit
- Exzentrische Kraftmessung
- Geplante und ungeplante Richtungswechsel
- Bildgebung
- Palpatorischer Druckschmerz
Als weniger relevant (unter 4,0 Punkten im Mittel) fielen u. a. durch:
- Hip and Groin Outcome Score (HAGOS)
- Schmerzen bei zehn Wiederholungen der Copenhagen-Adduction-Übung
Von der Theorie zur Praxis: Empfehlungsmatrix
Aus den Ergebnissen wurde eine Empfehlungsmatrix entwickelt, die die drei Kategorien (klinisch, funktionell, leistungsorientiert) strukturiert darstellt. Damit steht Rehabilitationsteams nun eine erste Orientierungshilfe für die Praxis zur Verfügung – wenn auch (noch) ohne wissenschaftlich abgesicherte Validierung.
Limitationen
Die Studie basiert auf Expertenmeinungen, nicht auf harten Daten. Das bedeutet: Die Einschätzungen sind aktuell die bestmögliche Evidenz – aber sie bleiben ein Konsens, keine Garantie.
Positiv hervorzuheben ist die methodische Sauberkeit der Datenerhebung. Gegenüber Einzelmeinungen hat dieses Vorgehen deutlich mehr Gewicht.
Fazit
Das Ziel aller Return-to-Sport-Tests ist klar: Das Risiko einer Wiederverletzung minimieren.
Der Konsens der Expertinnen und Experten liefert einen wertvollen Ansatz, bleibt aber ein erster Schritt. Entscheidend wird sein, diese Kriterien künftig in großen Studien mit realen Rezidivraten abzugleichen.
Das gilt übrigens nicht nur für den Profisport: Auch bei Patientinnen und Patienten, die nach Verletzungen in körperlich fordernde Berufe zurückkehren, sollte die Evaluation ähnlich differenziert erfolgen. Doch gerade hier fehlt es an Evidenz noch stärker.
Ein weiteres Problem: Die Therapiewissenschaften leiden – besonders in Deutschland – unter Nachwuchsmangel. Das bedeutet, dass die dringend notwendige Forschung wohl nur langsam vorankommen wird.
👉 Kurz gesagt: Adduktorenverletzungen sind ein ernstzunehmendes Thema, besonders im Fußball. Der nun vorliegende Expertenkonsens liefert Orientierung – ersetzt aber keine wissenschaftlich abgesicherten Leitlinien. Bis dahin gilt: Sorgfältige individuelle Evaluation bleibt der Schlüssel.